Wofür brauchen wir den 1. Mai?

Versuch einer Aneingung des "Tags der Arbeiter*innenbewegung"
1. Mai feministisch

Manch eine Person mag es bereits bemerkt haben: Unser Engagement rund um den "Tag der Arbeit" war bislang recht zurückhaltend. Während wir um andere Feiertage wie den Internationalen Frauenkampftag schonmal aufsehen erregende Aktion organisierten, trat tatsächliche Aktivität zum 1. Mai bei uns nur ein, wenn Nazis versuchten, sich den Tag anzueignen. Ansonsten erschöpfte sich unsere Mobilisierung in knappen Aufrufen zur Teilnahme an jenen Demonstrationsblöcken, welche wir als emanzipatorisch erachteten.

Warum ist es uns wichtig, den 1. Mai von rechter Vereinnahmung freizuhalten, können uns jedoch bislang selbst nicht wirklich für diesen Tag begeistern? Was stört uns an der konkreten Begehung dieses Tages und auf welche Weise könnten wir uns diesen Tag zu Eigen machen? Das Ausbleiben größerer 1. Mai-Demonstrationen in diesem Jahr, ist unseres Erachtens ein guter Anlass, diesen Fragen nachzugehen. In diesem Text versuchen wir den (Zwischen-) Stand unserer Debatte abzubilden. Er ist zugleich als Aufruf an andere Akteur*innen gedacht, sich in die Debatte einer (Wieder-) Aneignung des "Tags der Arbeiter*innenbewegung" mit einzubringen.

 

1. Kein Feiertag, sondern ein Protest- und Gedenktag

In der Praxis erleben wir den 1. Mai vor allem als einen Tag, an dem der DGB und seine Gewerkschaften Stärke demonstrieren und eine Erzählung ihrer Errungenschaften verbreiten. Das wirkt nicht nur genügsam, sondern vermittelt auch den Eindruck, als sei der 1. Mai eine Erfolgsgeschichte.

Dabei beginnt seine Geschichte mit einer Tragödie - der Chicagoer "Haymarket Affair" [1]: Am 1. Mai 1886 waren bei einem US-weiten Generalstreik zur Erkämpfung des Achtstundentages hunderttausende Arbeiter*innen auf der Straße. In Chicago griff die Polizei am 3. Mai eine Streikversammlung an, um Streikbrecher*innen den Zugang zu einer Fabrik zu ermöglichen und tötete dabei mehrere Arbeiter*innen. Als eine Protestkundgebung am 4. Mai auf dem Haymarket durch die Polizei gestürmt wurde, explodierte eine Bombe, die mehrere Polizist*innen tötete und zahlreiche Polizist*innen und Arbeiter*innen verletzte. Bei den anschließenden Kämpfen wurden mehr als 200 Arbeiter*innen verletzt und 7 Polizist*innen und ca. 21 Arbeiter*innen getötet. Acht Anarchist*innen, die die Kundgebung organisiert hatten, wurden festgenommen und der Verschwörung angeklagt. Vier von ihnen wurden hingerichtet, einer beging Suizid. Zum Gedenken an die Opfer auf dem Haymarket wurde 1889 auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationale der 1. Mai als"Kampftag der Arbeiterbewegung" ausgerufen. Am 1. Mai 1890 wurde dieser „Protest- und Gedenktag“ zum ersten Mal mit Streiks und Demonstrationen in der ganzen Welt begangen.

In der deutschen Historie beginnt die Geschichte des 1. Mai 1919. Genau ein Jahr war er nach der verhinderten sozialistischen Revolution gesetzlicher Feiertag, dann nicht mehr - bis ihn die Nazis 1933 okkupierten. Ab 1924 waren Demonstrationen unter freiem Himmel am 1. Mai sogar verboten. Als die KPD 1929 gleichwohl zu Protesten aufrief [2], titelte die SPD-Parteizeitung "Vorwärts": "200 Tote am 1. Mai? Verbrecherische Pläne der Kommunisten." Die Berliner Polizei ging berutal gegen die von der KPD organisierten Demonstrationen vor, 33 Menschen wurden getötet und zahlreiche Arbeiter*innen sowie Unbeteiligte verletzt. In der Folge wurde am 3. Mai 1929 in Preußen der Rote Frontkämpferbund (RFB) verboten, am 6. Mai erließ der SPD-Innenminister ein reichsweites Verbot des RFB. Selbst ein Verbot der gesamten KPD war zwischenzeitlich erwogen worden.

Nachdem Hindenburg Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt hatte, forderte die kommunistische Bewegung eine Einheitsfront gegen Hilter und die Ausrufung des Generalstreiks. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund riet dagegen zur Zurückhaltung [3]. In den folgenden Monaten waren die Gewerkschaften zu weitreichenden Zugeständnissen gegenüber den Nationalsozialisten bereit: Sie nahmen hin, dass die Sozialordnung der Weimarer Republik zugunsten einer nationalsozialistischen Arbeitsordnung außer Kraft gesetzt wurde. Sie versuchen sich als "Schule der Verantwortung" zu inszenieren, erklärten, sich in den neuen Staat einzuordnen und nahmen hin, dass der 1. Mai von den Nationalsozialisten in einen "Tag der nationalen Arbeit" umgemünzt wird. Sie hofften, durch ihre Bereitschaft zur Anpassung von den Nationalsozialisten verschont zu bleiben. Ein fataler Irrtum. Am 2. Mai 1933 wurden die Büros der Freien Gewerkschaften in ganz Deutschland gestürmt, die Vermögen beschlagnahmt und führende Gewerkschafter verhaftet.

Diese Geschichte des 1. Mai  macht deutlich:

  1. Der erste Mai ist kein Feiertag, sondern ein Protest- und Gedenktag. Wer ihn begeht, begeht ihn vor dem Hintergrund zahreicher Arbeiter*innen, die an diesem Tag ihr Leben gelassen haben.
  2. Der erste Mai als "Tag der Arbeit" wurde in Deutschland nicht errungen, sondern genehmigt.

 

2. Praktische Relevanz des "Tages der Arbeit" in den aktuellen Kämpfen

Angesichts einer Vielzahl von Kämpfen, die mit mehr Nachdruck geführt werden und teilweise deutlich mehr Öffentlichkeit erfahren (z. B. Kämpfe um Klimagerechtigkeit, Kämpfe um die Rettung von und Solidarität mit Geflüchteten, feministische Kämpfe) stellt sich für uns im globalen Norden die Frage nach der praktischen politischen Relevanz eines "Tages der Arbeit". Denn mit dem Arbeiter*innen-Begriff wird in den westlichen Ländern häufig noch immer der historische männliche Industriearbeiter verbunden, der das Familieneinkommen erwirtschaftet, während die Care-Arbeit der Frau unbezahlt bleibt. Dieses Bild ist gleichermaßen Ausdruck patriarchaler Strukturen wie einer Fetischisierung der Arbeit und Romantisierung eines Arbeitsethos. Diese Industriejobs sind zu großen Teilen in den globalen Süden ausgelagert worden. Haben sich sich die Produktionsverhältnisse zu sehr geändert bzw. ausdifferenziert, um den Begriff der Klasse noch mit einem übereugenden Erklärungsansatz verbinden zu können?

Ja und Nein. Einerseits verdeutlichen Auseinandersetzungen wie jene bei Amazon, General Electric, XXXLutz usw., dass das vermeintlich angestaubte Konzept der Zugehörigkeit zur lohnarbeitenden Klasse trotz aller Verschiebungen Solidarität stiften und als Bezugspunkt für emanzipatorische Politik dienen kann. Insoweit wäre es wichtig, Kämpfe der Mieter*innen, der Care-Arbeiter*innen usw. mit jenen der Arbeiter*innen in der Industrie zu verbinden. Andererseits stellt sich die Frage danach, welche Zukunftsperspektive der Begriff über die bestehende wirtschaftliche Ordnung hinaus zeichnet. Zudem wird die Rolle der unterbezahlten Care-Arbeiter*innen in der öffentlichen Debatte zwar zunehmend thematisiert. Nach unserer Wahrnehmgung sind es jedoch nicht vowiegend Care-Arbeiter*innen, die am 1. Mai auf der Bühne stehen, an den Demonstrationen teilnehmen oder dem Bühnenprogramm [4] lauschen.

Natürlich gibt es jenseits des üblichen Bühnenprogramms auch kämperische Ausdrücke des 1. Mais in der BRD, wie etwa der traditionelle revolutionäre 1. Mai in Kreuzberg. Doch ist eine derartige alljährliche Inszenierung eines Aufstandes häufig ebenfalls mehr Klischee als Ausdruck realer Kämpfe [5]. Sollten die emanzipatorischen Bewegungen in ihrer Vielfältigkeit also den ersten Mai kapern und zum "Tag der Unterdrückten" erklären? Wir denken nicht, dass dies der Vielfältigkeit der Kämpfe gerecht würde.

Wenn der "Tag der Arbeit" Potenzial hat, dann das,

  1. aus der Bewegung heraus, die neue Klassenpolitik auszuformulieren und dies bewusst in Abgrenzung zu dem Ansatz jener Gewerkschaften, welche noch immer vorwiegend den männlichen, weißen Alleinverdiener repräsentieren und
  2. den Tag gleichzeitig als Tag der Solidarität mit den Kämpfen (vorwiegend) im globalen Süden zu beschreiben und die Einhaltung der Menschenrechte von Arbeiter*innen international einzufordern.

 

3. Was hat die emanzipatorische Linke beizutragen?

Wir haben Respekt vor der Leistung jener Akteur*innen des "Antikapitalistischen Bündnisses", die über Jahre hinweg auf der Mannheimer 1. Mai-Demonstration daran erinnert hat, dass "alle Verhältnisse umzuwerfen [sind], in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.", während wir an den Demonstrationen, wie eingangs erwähnt, lediglich sporadisch und unverbindlich mitgewirkt haben. Wir haben jedoch den Eindruck, dass das Bestehen auf das Ziel der Überwindung des Kapitalismus nicht als Grundlage eines Bündnisses ausreicht. Wir sind uns - so abstrakt formuliert - einig in dem Ziel und würden gerne mehr über den Weg nachdenken. Für uns gehört dazu, dass sich progressive Positionen nicht lediglich in einem Block, sondern im Gesamtrahmen der Veranstaltungen zum 1. Mai wiederfinden. Vielleicht kann durch die Formulierung progressiver, einfach verständlicher Richtungsforderungen die Notwendigkeit einer radikalen Linken Gesellschaftskritik stärker manifestiert werden. Wir nehmen uns jedenfalls vor, uns in den kommenden Jahren in diesem Sinne mehr mit einzubringen und hoffen hierbei auf das Wohlwollen der etablierten Akteur*innen zu stoßen.  

 

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Mai#Geschichte:_Haymarket_Affair
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Blutmai
[3] https://www.gewerkschaftsgeschichte.de/1933-gewerkschaften-fordern-besonnenheit.html
[4] https://nordbaden.dgb.de/termine/++co++340c4ca6-5087-11e9-8de9-52540088cada
[5] https://erstermai.nostate.net/wordpress/?p=3288